Analyst René Büst über die Herausforderungen der digitalen Transformation im B2B-Handel. Was Unternehmen veranlassen müssen, wo Chancen liegen und wann man erst von einer ganzheitlichen Umsetzung sprechen kann.
Das Ergebnis unserer aktuellen Digital Business Readiness Studie überrascht: „42 Prozent der Unternehmen haben bereits eine Digitalstrategie“, und ein gar nicht mal so kleiner Anteil der Befragten sagte sogar, dass man die Strategie bereits „erfolgreich umgesetzt“ habe. Höchstwahrscheinlich aber handelt es sich dabei nur um Wunschdenken. Denn vor allem in der IT-dominierten Welt hat es den Anschein, dass einige Unternehmen und Organisationen bei ihrer Definition der Digitalstrategie zu kurz gesprungen sind. Wenn wir bei Crisp Research in einer Studie danach fragen: „Wie stark ist Ihr Unternehmen von der digitalen Transformation betroffen?“ und knapp die Hälfte antwortet „schwach“ oder sogar „gar nicht“, dann ist eher Aufklärung vonnöten. Nicht nur, dass man davon ausgehen kann, dass nahezu jedes Unternehmen stark betroffen sein wird. Auch die Weichenstellungen für die Transformation werden augenscheinlich unterschätzt.
Wirft man einen Blick auf die Details, so zeigt sich nämlich, dass die Digitalisierung in ihrer Ganzheitlichkeit einem mehrere Ebenen umfassenden Großauftrag entspricht. Sie spielt sich auf einer IT-technologischen, prozessualen und organisatorischen Ebene mit jeweils tiefgehenden Änderungen ab. Gerade im Handel lässt sich gut darstellen, welch große Menge an Stellschrauben noch zu drehen sind, bis man tatsächlich von einer umfassenden Digitalstrategie und vor allem ansatzweise von deren Umsetzung sprechen kann.
Die Unternehmens-IT als Startpunkt
Um die Lagerhaltung im B2B-Handel zu modernisieren, bietet sich als Ausgangsbasis die Analyse des eingesetzten ERPs und der darüber laufenden Prozessketten an. Anhand dessen zeigt sich recht schnell, ob und wo Medienbrüche entstehen, sich also Lücken zwischen analoger und digitaler Welt auftun. Wie sind beispielsweise ERP, CRM und die E-Commerce-Lösung miteinander gekoppelt und wie ist das Lager bzw. die Lagerhaltung diesbezüglich eingebunden? Wie ist der Lauf von Lieferscheinen?
Um Missverständnisse zu vermeiden: Sind nur Teilsegmente dieser Bereiche bzw. Prozesse digitalisiert, so kann man eben nicht von einer Transformation sprechen. Das sieht man häufig bei den Beständen: Oftmals wissen nicht alle Beteiligten im Unternehmen, wo die Ware in Echtzeit ist, ob tatsächlich im Verkauf oder noch im Lager. Und fragt man mitunter Händler, wie viele Artikel exakt zum Zeitpunkt X auf der gesamten Fläche vorhanden sind, erntet man lediglich ein Schulterzucken. Sprich, bei Inventarisierung und Nachbestellung allein liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit in vielen Unternehmen noch jede Menge digitales Potenzial brach.
Eine bekanntermaßen große Herausforderung von Handel und E-Commerce hinsichtlich der Digitalisierung, die ebenfalls voll umfänglich gelöst sein muss, ist die der Schnittstellen. Diese betrifft nicht nur das Unternehmen allein, sondern alle mit ihm vernetzten Partner oder Zulieferer. Denn Transformation ist vor allem ein Datenthema. Das hinlänglich bekannte Wachstum dieser Daten hin zu Big Data wird nicht allein aus Gründen der Quantität für Anstrengungen sorgen. Sondern auch die Frage der Datenqualität spielt eine immer wichtigere Rolle. Es mangelt allerorts an Standards, die Ausspielkanäle bzw. Anforderer für Daten werden immer vielfältiger und die Komplexität der Schnittstellen-Problematik wird – Stichwort Internet der Dinge – bereits mittelfristig ansteigen. Schon erscheint es sinnvoll, explizit „Schnittstellenbeauftragte“ für ein Unternehmen einzufordern.
Nächster Anknüpfungspunkt: die Prozessoptimierung
Im B2B-Handel können beispielsweise digitale Beschilderungen und RFID-Tags genutzt werden, damit nicht nur jederzeit die Bestände in Echtzeit erkennbar sind, sondern sich mittels der digitalen Vernetzung zwischen Prozess und System dann tatsächlich eine voll automatisierte Lagerhaltung erzielen lässt. Das sähe zum Beispiel so aus, dass beim Unterschreiten einer bestimmten Mindestmenge gleich ein autarker Nachbestellprozess aus dem Lager angestoßen wird – ohne menschliches Dazutun. Das heißt: Prozesse werden maschinell ausgelöst oder bestätigt.
Digitale Prozesskette heißt aber auch, dass sich die Beziehungen zum Kunden positiv verändern lassen. Wenn der Großhändler beispielsweise seinen Gabelstapler oder andere für das Lager dringend benötigte Geräte in Reparatur gibt, will er nicht wochenlang vom Servicedienstleister im Ungewissen gelassen werden, um dann endlich eine Mitteilung zu bekommen, dass die Maschinen nun fertig sind. Das ist kein zeitgemäßer Kundenservice mehr. Ein Kunde möchte über einen Statusbericht informiert werden, wann die Reparatur ungefähr fertiggestellt sein wird, was konkret defekt war und nicht im Dunklen tappen. Deshalb ist es ein guter Weg, wenn Unternehmen ernsthaft prüfen, ob es ihrerseits solche dunklen Flecken in den Prozessen gibt. Das heißt aber auch, dass die Händler sämtliche Unternehmensprozesse kritisch analysieren, Medienbrüche aufdecken und deren Übergänge dann digitalisieren sollten.
Verankerung auf der organisatorischen Unternehmensebene
Zur Realisierung einer ganzheitlichen Digitalstrategie ist es wichtig, dass die Prozesse erstens von der Unternehmensführung vorgelebt und zweitens für alle Mitarbeiter gewissermaßen mit erlebbar gemacht werden. Nur so ist es möglich, dass die Transformation übergreifend stattfinden kann. Wenn beispielsweise ein Unternehmen aktenbasierte Archive abschafft und stattdessen entsprechende Desktop-Umgebungen einführt, sollte zuerst der entsprechende Mehrwert für das gesamte Unternehmen bzw. den einzelnen Mitarbeiter deutlich gemacht werden. Denn für die operative Ebene können dadurch komplette Tätigkeiten obsolet werden oder sich Arbeitsplatzbeschreibungen in Gänze ändern. Deshalb: Digitale Transformation ist ein Thema, das tief in die Unternehmenskultur eindringt.
Aus diesem Grund brauchen Unternehmen eine umfassende Roadmap zum Thema Digitalisierung, die tatsächlich alle drei beschriebenen Ebenen umfasst. Ist diese mit Leben gefüllt und der Transformationsprozess auf allen drei Ebenen angekommen, winken neue Geschäftsmodelle und mehr Umsatzchancen als Lohn der Anstrengungen. Die Botschaft dabei: Erfolge fangen bereits im Kleinen an. Als ein gutes Beispiel lässt sich der Bereich Marketing benennen. Viele Händler setzen auf Newsletter und ähnliche Möglichkeiten, um mit dem Kunden in Kontakt zu treten. Aber längst nicht alle sind personalisiert, immer noch wird der Interessent von Massenmailings „erschlagen“, die deutlich zielgerichteter sein könnten. Hat das Unternehmen aber die drei Sektoren – IT, Prozesse und Organisation – digital miteinander verknüpft, fließen die Informationen ohne Brüche an die Bedarfsträger zurück und so ist eine deutlich qualifiziertere Ansprache der Kunden möglich. Ebenso ist langfristig der Wandel vom reinen Händler hin zum umfassenden Dienstleister eine Chance. Da der Lieferant beispielsweise durch seine Datenanalysen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiß, dass der Kunde in den Engpass eines Produktes gerät, den er vielleicht selbst noch gar nicht absieht, kann ihm sein Händler proaktiv im Sinne eines Predictive-Analytics-Modells schon im Vorwege eine Lösung anbieten.
Fazit: Erfolgreiche Digitalisierung im B2B-Handel ist ein IT-Thema, ein Prozessthema und auch ein Organisationsthema. Darüber hinaus ist es wichtig, dass diese drei Ebenen nicht singulär, sondern im Zusammenspiel analysiert und anschließend optimiert werden – dann, und nur dann, sind die Weichen für eine prosperierende Zukunft deutlich besser gestellt.
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Das Interview ist zuerst unter “Im Gespräch mit René Büst, Wann man tatsächlich von erfolgreicher Digitalisierung sprechen kann” erschienen.